Beitrag von Martin Straube, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Baurecht & Architektenrecht
Die Änderung der ThürBO 2024
ThürBO 2024 Bauen im Bestand – Erleichterungen für Bauherren: Am 19. Juli 2024 trat die Thüringer Bauordnung 2024 (ThürBO 2024) in Kraft. Mit dieser Novelle verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, das Bauordnungsrecht in Thüringen praxisnäher, moderner und effizienter zu gestalten. Im Vordergrund stehen die Schaffung von mehr Wohnraum, der Abbau bürokratischer Hürden sowie die Förderung digitaler Verfahren. Auf dem Papier liest sich das wie ein wichtiger Schritt in Richtung Bauwende – aber hält die Reform, was sie verspricht? Und wie groß ist ihr tatsächlicher Einfluss auf den Wohnungsbau in Thüringen?
Wir beleuchten einige Kernpunkte. Die vollständige Synopse gibt es hier. Im Fokus der Novelle stehen unter anderem das Abstandsflächenrecht, Regelungen zum Bauen im Bestand, Erleichterungen bei der Stellplatzpflicht sowie eine moderate Einführung digitaler Verwaltungsverfahren. Für Bauherren, Architekten, Projektentwickler, Kommunen und private Bauwillige ist die zentrale Frage: Wo schafft die ThürBO 2024 tatsächliche Erleichterung und wo bleiben strukturelle Probleme unangetastet?
1. Abstandsflächenrecht – Präzisierung statt unbestimmter Auslegungsspielräume
Bisherige Problematik:
Das Abstandsflächenrecht gehört seit jeher zu den neuralgischen Punkten des Bauordnungsrechts. In der Praxis sind es regelmäßig Fragen zur Einhaltung von Abständen zur Nachbargrenze, die zu erheblichen Konflikten zwischen Bauherrn, Nachbarn und Bauaufsichtsbehörden führen. Ein besonderes Problem war bislang die unklare Definition des Schutzzwecks. Die Bezugnahme auf den sogenannten „nachbarlichen Wohnfrieden“ in der Verwaltungspraxis schuf einen kaum fassbaren Maßstab – mit der Folge, dass Genehmigungsverfahren oft langwierig und intransparent verliefen.
Was ändert sich nun?
Die Neufassung des § 6 Abs. 1 Satz 1 ThürBO 2024 beseitigt diesen Unsicherheitsfaktor. Dort heißt es nun ausdrücklich und klarstellend:
„Zur ausreichenden Belichtung und Belüftung sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten.“
Der von der Rechtsprechung aus der bisherigen Regelung abgeleitete „nachbarliche Wohnfriede“ ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht mehr Schutzgut des Abstandsflächenrechts. Die Prüfung durch die Genehmigungsbehörde beschränkt sich künftig auf überprüfbare bauphysikalische Kriterien. Dieser Schritt sorgt für rechtliche Klarheit und reduziert die Streitträchtigkeit von Nachverdichtungsmaßnahmen erheblich.
Weitere Neuerungen:
In § 6 Abs. 4 ThürBO wird der Begriff der Gebäudehöhe (H) für die Berechnung der Abstandsfläche gesetzlich definiert. Auch dies ist ein Beitrag zur Rechtsklarheit und ein Gewinn für die planerische Vorhersehbarkeit.
Vorbauten, wie Balkone, Erker oder ähnliche architektonische Elemente, bleiben gemäß § 6 Abs. 6 Nr. 2 ThürBO unter bestimmten Voraussetzungen bei der Abstandsflächenberechnung unberücksichtigt. Dies ist zulässig, wenn der Vorsprung 1,50 Meter nicht überschreitet und nicht mehr als ein Drittel der Wandfläche betrifft. Gerade in städtischen Kontexten ist dies eine sinnvolle Erleichterung.
Zudem sind im Außenbereich gewisse Antennenanlagen unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ThürBO vom Abstandsflächengebot befreit. Dies betrifft insbesondere moderne Kommunikationsinfrastrukturen.
Juristische Bewertung:
Die vorgenommenen Änderungen sind rechtssicher, klar und konsequent. Die Abkehr vom unbestimmten Maßstab des „Wohnfriedens“ verbessert die Rechtsanwendung erheblich. Die Regelungen sind auch geeignet, innerstädtische Nachverdichtung rechtssicherer und schneller genehmigungsfähig zu machen. Planer, Bauherren und Genehmigungsbehörden erhalten praktikable und überprüfbare Maßstäbe. Konfliktpotenziale mit Nachbarn werden reduziert.
2. Bauen im Bestand – mehr Flexibilität für Wohnraumschaffung
Ausgangslage:
Angesichts steigender Grundstückspreise, knapper Flächen und hoher Baukosten rückt das Bauen im Bestand massiv in den Fokus. Wohnraumschaffung durch Umnutzung, Aufstockung oder Ausbau ist in der Regel günstiger, ressourcenschonender und schneller realisierbar als Neubauten auf unbebautem Grund. Doch bislang sahen sich Bauherren hier mit bürokratischen Hemmnissen konfrontiert, etwa durch erhöhte Anforderungen bei Wechsel der Gebäudeklasse oder durch Stellplatzverordnungen, die innerstädtisch kaum umsetzbar waren.
Die Antwort der ThürBO 2024:
Die neuen Regelungen erleichtern das Bauen im Bestand, insbesondere durch Änderungen bei den Abstandsflächen und anderen Vorschriften. Ziel ist es, den Flächenverbrauch zu reduzieren und die Schaffung von kostengünstigem Wohnraum zu fördern.
Abstandsflächenregelungen (§ 6 ThürBO 2024):
Die Freistellung von der Pflicht zur Einhaltung von Abstandsflächen wurde erweitert. Neben Vorhaben nach § 34 Abs. 1 BauGB (also Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich) gilt dies nun auch für Vorhaben nach § 34 Abs. 3a BauGB. Diese Regelung umfasst auch Ersatzbauten, da beseitigte Gebäude weiterhin die Umgebung prägen können (§ 6 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 ThürBO 2024).
In § 6 Abs. 8 ThürBO 2024 wird eine Liste von Maßnahmen aufgeführt, die nicht unter die allgemeinen Abstandsflächenregelungen (§ 6 Abs. 1 bis 7 ThürBO 2024) fallen. Voraussetzung ist, dass diese Maßnahmen an rechtmäßig bestehenden Gebäuden durchgeführt werden. Für Nebengebäude (§ 6 Abs. 7 Nr. 1 ThürBO 2024) sind bestimmte Ausnahmen möglich, wie z. B. energiesparende Maßnahmen oder die Installation von Solaranlagen mit einer Stärke von bis zu 40 cm (§ 6 Abs. 8 Satz 2 ThürBO 2024).
Erleichterungen beim Dachausbau und der Wohnraumnutzung:
Der Ausbau oberster Geschosse oder Dachräume wird vereinfacht: Für Gebäude über 13 m Höhe entfällt die Pflicht zum Einbau eines Aufzugs (§ 42 Abs. 4 Satz 1 Hs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ThürBO 2024), wenn das Dachgeschoss nachträglich ausgebaut oder das Gebäude um bis zu zwei Geschosse aufgestockt wird.
Neue Wohnungen, die durch Dachausbau, Aufstockung oder Teilung entstehen, sind von der Pflicht zur Schaffung notwendiger Stellplätze (§ 52 Abs. 2 Nr. 2 ThürBO 2024) sowie von der Verpflichtung zur barrierefreien Erreichbarkeit (§§ 53 Abs. 1 Sätze 1-3 ThürBO 2024) befreit.
Genehmigungsfreiheit bei Änderungen im Dachgeschoss (§§ 64 Abs. 1 und Abs. 2 ThürBO 2024):
Änderungen am Dachgeschoss zu Wohnzwecken sind unter bestimmten Voraussetzungen genehmigungsfrei gestellt (§§ 64 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 ThürBO).
Umnutzung von Aufenthaltsräumen zu Wohnraum:
Die Umnutzung bestehender Aufenthaltsräume zu Wohnraum, § 51 Abs. 5 ThürBO, wird erleichtert, indem bestimmte bauliche Vorschriften auf bestehende Bauteile nicht angewendet werden: Dazu gehören Vorschriften über Abstandsflächen (§§ 6 ThürBO), tragende Wände (§§ 30 ThürBO), Brandwände (§§ 33 ThürBO), Decken (§§ 34 ThürBO) und Dächer (§§ 35 ThürBO). Eine erneute Überprüfung dieser Vorschriften ist unnötig, da rechtmäßig bestehende Aufenthaltsräume bereits ähnliche Anforderungen erfüllen.
Neue Regelung zur Stellplatzpflicht:
Die Neuregelung in § 52 Abs. 2 Nr. 2 ThürBO 2024 enthält folgenden Wortlaut:
„Die Verpflichtungen nach Absatz 1 Satz 1 bis 3 (Stellplatzpflicht – d.V) entfallen,
- (…)
- wenn bei einem am 4. April 2023 rechtmäßig bestehenden Gebäude eine Wohnung geteilt oder Wohnraum durch Nutzungsänderung, durch Aufstocken des Gebäudes oder durch Ausbau des Dachraums geschaffen wird.“
Diese Ausnahme betrifft eine Vielzahl typischer Fälle in Bestandsimmobilien: Dachausbauten, Nutzungsänderungen von Gewerberäumen, Wohnungsteilungen. Gerade in dicht bebauten Quartieren ist die Schaffung zusätzlicher Stellplätze nicht möglich oder wirtschaftlich unzumutbar. Die Streichung dieser Pflicht beseitigt ein wesentliches Genehmigungshemmnis.
Beispielhafte Anwendung:
Ein Investor plant den Umbau eines Altbaus mit drei Geschossen. Im Dachgeschoss sollen zwei weitere Wohneinheiten entstehen. Nach alter Rechtslage wäre dies mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden gewesen: zusätzliche Stellplätze, Brandschutzkonzept nach Gebäudeklasse 4, bautechnische Auflagen. Nach neuer Rechtslage kann das Vorhaben unter Anwendung der Privilegierungen genehmigt werden – ein klarer Impuls für die innerstädtische Wohnraumschaffung.
Juristische Bewertung:
Die Änderungen in § 33 und § 52 ThürBO 2024 sind zielgerichtet, umsetzbar und ein deutlicher Fortschritt gegenüber der alten Rechtslage. Sie bringen realistische Lösungen für häufige Problemkonstellationen und sind geeignet, in großem Umfang zusätzlichen Wohnraum zu aktivieren – ohne Neubau auf der grünen Wiese.
3. Digitalisierung – ein Schritt mit offenem Ausgang
Die Neuerung:
Mit Wirkung zum 01. Januar 2025 wird die elektronische Kommunikation mit der Bauaufsicht durch die Einfügung des § 3a Abs. 3 Nr. 3a ThürVwVfG gesetzlich gestärkt. Baugenehmigungen können künftig mit einem qualifizierten elektronischen Siegel versehen werden. Dies schafft die Möglichkeit, Genehmigungsverfahren vollständig digital durchzuführen – inklusive Antrag, Korrespondenz, Zustellung und Archivierung.
Hintergrund ist die Anpassung an die Vorgaben des Onlinezugangsgesetzes (OZG) sowie der Wunsch, Verfahren effizienter zu gestalten.
Juristische Bewertung:
Die Änderung ist richtungsweisend. Sie schafft die gesetzliche Grundlage für ein modernes Baugenehmigungsverfahren. Allerdings: Die digitale Umsetzung erfordert erhebliche Investitionen in Software, Schulung und IT-Sicherheit. Derzeit verfügen nicht alle Bauaufsichtsbehörden in Thüringen über die nötige Infrastruktur. Zudem fehlen landesweit einheitliche Plattformen für digitale Bauanträge. Bis zur flächendeckenden Umsetzung dürfte es also noch dauern.
4. Fehlende Verfahrensbeschleunigung – verpasste Chancen
Trotz der positiven Ansätze bleibt festzuhalten, dass die ThürBO 2024 keine grundlegenden Reformen im Hinblick auf die Dauer von Genehmigungsverfahren vorsieht. Es fehlen weiterhin:
- gesetzlich verbindliche Prüffristen für Bauanträge,
- eine allgemeine Genehmigungsfiktion bei Fristüberschreitung durch die Behörde (wie sie z. B. in § 36a VwVfG auf Bundesebene diskutiert wird),
- Vereinfachungen bei der Beteiligung öffentlicher Stellen und Dritter.
Gerade in komplexeren Vorhaben mit Bebauungsplanbindung, Umweltprüfung oder Nachbarbeteiligung führt dies weiterhin zu langen und teilweise unvorhersehbaren Verfahrensverläufen. Eine echte Verfahrensbeschleunigung bleibt damit aus.
5. Weitere Anpassungen – Detailregelungen mit Wirkung
Neben den strukturellen Neuerungen enthält die ThürBO 2024 auch eine Reihe von kleineren, aber praxisrelevanten Änderungen:
- §§ 56, 58, 59 ThürBO wurden sprachlich überarbeitet und verwenden nun neutrale Begriffe (z.B. „Bauherrschaft“ statt „Bauherr“). Dies entspricht der aktuellen Entwicklung in Gesetzgebung und Verwaltung.
- § 64 ThürBO regelt nun die Genehmigungsfreiheit bestimmter kleinerer baulicher Maßnahmen präziser. Dies schafft mehr Klarheit für Bagatellvorhaben.
- § 53 ThürBO konkretisiert die Anforderungen an barrierefreies Bauen, insbesondere bei Umbauten und Nutzungsänderungen. Dies entspricht den Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes und fördert inklusives Bauen.
6. Fazit – ein wichtiger Schritt, aber kein Durchbruch
Die ThürBO 2024 setzt an den richtigen Stellen an. Insbesondere bei der Vereinfachung des Bauens im Bestand, der Klarstellung im Abstandsflächenrecht und bei der Digitalisierung gibt es spürbare Fortschritte. Dennoch: Für eine grundlegende Reform des Bauordnungsrechts wären weitergehende Maßnahmen erforderlich gewesen. Gerade die Verfahrensbeschleunigung wurde nicht angefasst. Hier bleibt die Hoffnung auf die nächste Reformrunde.
Bauherren und Planer sollten die neuen Spielräume nutzen, insbesondere bei Dachausbauten und Umnutzungen. Gleichzeitig bleibt der enge Austausch mit der Bauaufsicht wichtig – denn trotz neuer Regeln ist vieles weiterhin Auslegungssache.
Unsere Kanzlei berät Sie kompetent und praxisnah zu allen Fragen rund um das Bauen nach der neuen ThürBO 2024.
Sprechen Sie uns an – wir denken mit: baurechtlich präzise, lösungsorientiert und immer mit Blick auf Ihr Projekt.
Autor: Martin Straube, Rechtsanwalt – Fachanwalt Baurecht & Architektenrecht, alpha Rechtsanwälte Fachanwälte PartG mbB